Ich schaue auf die Uhr. Die Sitzung zieht sich wieder in die Länge. Wie immer will jeder zu jedem Thema seine Sichtweise loswerden. Hat denn keiner von denen Hunger? Ich höre mein lautes Magenknurren und wird wohl mein Beitrag zur Diskussion sein. Ich will, dass endlich Schluss ist mit dieser Nabelschau der Selbstwichtigkeiten. Doch ich habe hier nichts zu sagen. Ich lehne mich zurück und schaue durch die Runde: Hat sich Lena die Haare gefärbt? Schöne Farbe, steht ihr. Als mein Blick auf Martin fällt, traue ich meinen Augen nicht. In seinem Knopfloch am Revers steckt eine Rose. Ist die echt? Das muss ich ihn gleich mal nachher fragen. Während ich noch meinen Gedanken nachhänge, fangen auf einmal alle im Kreis an zu klatschen. Oh, das ist das Zeichen, die Sitzung ist gleich zu Ende.
In der Kantine ist es wie jeden Tag brechend voll. Wenn mein knurrender Magen nicht wäre, dann würde ich mich an der langen Schlange anstellen. Es gibt Spargel mit leckerer Soße. Doch so entscheide ich mich für die schnellste Variante, schnappe mir eine leere Suppenschüssel und gehe zur Salatbar.
An unserem gewohnten Abteilungstisch bin ich daher die Erste und fange schon mal an. Bei uns zu Hause gab es das Sprichwort: „Hunger macht böse“ und ich könnte die Erfinderin dieser Weisheit sein. Wenn ich jetzt schon mal etwas esse, erhöht sich die Chance, dass ich in der Pause zahm und geduldig den Gesprächen meiner Kollegen folgen kann. Mittlerweile füllt dich der Tisch. Ich mache Lena ein Kompliment zu ihrer Frisur und sehe, wie sie sich freut, dass jemand mitbekommen hat, dass sie beim Friseur war.  In all dem Trubel der Arbeit rutschen diese kleinen Streicheleinheiten oft weg. Wie aufmerksam nehmen wir denn unsere Umgebung noch wahr? Jeden Tag der gleiche Weg zur Arbeit. Sehe ich überhaupt noch, wohin ich gehe, wem ich begegne, oder setze ich einfach nur noch Schritt vor Schritt und bin in der Routine des Alltags gefangen?

Das war auch die große Frage, die die Seminarleiterin uns am Wochenende in ihrem Kurs gestellt hatte. Wie achtsam sind wir unterwegs. Würde es uns auffallen, wenn etwas anders auf unserem Weg wäre? Sie startete mit uns ein Experiment. Wir sollten am Samstag den Raum, in dem wir saßen, ganz genau anschauen und jede Kleinigkeit wahrnehmen. Sie sagte uns nicht warum. Als wir am Sonntag kurz vor Beginn der Abschlussfeedbackrunde waren, brachte sie unsere Aufmerksamkeit nochmals zu dieser Übung zurück. Was war uns am Sonntag aufgefallen, was am Vortag anders gewesen war? Jeder schaute sich jeder nochmals im Raum um. Es war erstaunlich, was jedem in seinem Gedächtnis hängengeblieben war. Diese Übung öffnete Vermutungskisten und Fantasien, was alles da gewesen war. Von Fahnen an der Wand, Stecknadeln auf der Erde bis hin zum Inhalt einer Bastelkiste mit einem Lötkolben und anderem Werkzeug. Es war unglaublich zu sehen, wie uns das Gedächtnis und Gehirn uns manipuliert. Manche hätten ihre Hand dafür verwettet, dass etwas da gewesen war, doch die Seminarleiterin hatte vor dem Kurs Bilder vom Raum als Beweis gemacht. Keine Chance, einiges war wirklich nur erdacht.
Martin tippt mir auf die Schulter. „Wo bist du denn gerade mit deinen Gedanken unterwegs?“
Nochmals fällt mein Blick auf seine Jacke und ich frage ihn: „Ist die echt?“
„Natürlich, dachtest du etwas ich stecke mir eine Plasteblume an? Das wäre doch nicht mein Stil. Willst du mal riechen?“

 


 

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