Es war morgens um 9. Die Sonne war über den Rand des Fichtenwaldes geklettert, die ersten Strahlen warfen schon ihr Licht auf die Häuser der gegenüberliegenden Straßenseite.

Auf der Dorfstraße war es still. Seit die neue Umgehungsstraße für den Autoverkehr freigegeben wurde, saß Liesel zwar wie eh und je jeden Tag ab 8 am Fenster ihrer Wohnung im Erdgeschoss und schaute auf die Straße, doch es war nichts mehr los. Es war stiller als still.

Als ihr Erwin noch lebte, hatte sie noch viel zu tun. Er hielt sie gerne auf Trab, saß in seinem Sessel und liebte es, wenn Liesel ihn von vorne bis hinten bediente. Und Liesel liebte es, ihn zu betüdeln und zu verwöhnen. Die beiden hatten sich nach Schule kennengelernt. Es war keine Frage, da hatten sich die zwei richtigen gesucht und gefunden. Liesel war sofort klar: Das ist der, dem sie sich ganz vertrauensselig hingeben wollte. Er wusste, was ihr gefiel und las ihr die Wünsche von den Augen ab.

Ihretwegen waren sie in diese Wohnung gezogen, denn er wusste, wie gerne sie aus dem Fenster schaute und aus dem Buchstaben der Autokennzeichnen lustige kleine Sätze bildete. Doch jetzt war es hier im Haus nur noch still. Totenstill. Ihr Erwin war eines Nachmittags einfach nicht mehr von seinem Nickerchen aufgewacht.

Es war ein heißer Sommertag. Er hatte es sich bequem gemacht und saß nur in Schlüpfer und T-Shirt im Sessel. Liesel hatte zwar immer wieder zu ihm gesagt: Was sollen denn die Leute sagen, wenn du so dasitzt, wenn sie uns besuchen kommen, doch Erwin brummte nur: ist mir doch egal. Wer mich besuchen kommt, muss mich so nehmen, wie ich bin. Außerdem würde er sich ja noch eine Hose überziehen, wenn wirklich mal jemand überraschend käme. Doch das kam schon lange nicht mehr vor.

Als er dann so dalag, war es Liesel überaus peinlich, als sie den Arzt anrief und die Fahrer vom Bestattungswagen ihren Erwin nur so in Schlüpfer auf die Trage legen mussten. Doch ihr Erwin bekam von alledem nichts mehr mit. Er war sowieso einer, der immer hoffnungsstur ins Leben schaute, der mit einem unversiegbaren Optimismus gesegnet war, der auch dem schlimmsten Umstand noch einen Funken Licht abringen konnte.

Dafür hatte sie ihn einerseits geliebt. Doch manchmal trieb seine positive Haltung auch ungeheuerlich Blüten. Zum Beispiel nach der Wende, als er dachte, jetzt wird alles gut, er wird allen die besten Versicherungen verkaufen und jeder wird bei ihm eine Police unterschreiben, es sind doch alles seine Freunde. Nichts war es, seine Freunde haben ihn nur ausgelacht.

Doch er ließ sich nicht beirren und sagte zu seiner Liesel: Wir brauchen nichts Neues. Das, was wir brauchen, haben wir, das reicht uns, denn wenn unsere Zeit hier vorbei ist, können wir sowieso nix mitnehmen. Da war ihr Erwin ein ganz pragmatischer.

Der ihr so peinliche Schlüpfertag ist nun schon fast ein Jahr her. Seitdem saß sie in ihrer stillen Wohnung am Fenster. Und inzwischen fuhren auch die Autos nicht mehr an ihrem Haus vorbei. Ab und zu brummte der alte Lada von Gärtner Krause noch vorbei oder die verrückte Familie mit den vielen Kindern hupte, wenn sie mit ihrem Wohnmobil an ihrem Fenster vorbeifuhren, die Kinder winkten ihr dann meist wild zu. Doch ansonsten kam hier kein fremdes Auto mehr die Straße entlang.

Liesel langweilte sich bei so viel Stille um sie herum. Bei all dem vor sich hin dösen, kamen ihr die verrücktesten Träume in den Sinn. Was wäre, wenn sie ihre paar Habseligkeiten einpacken würde und noch einmal ganz neu anfangen würde? Doch wie sollte das gehen? Sie war noch nie allein ohne ihren Erwin unterwegs gewesen. Doch hier versauern wollte sie auch nicht. Sie fühlte sich noch zu jung zum Sterben. Doch war sie schon zu alt für einen Neubeginn?

Sie schloss das Fenster und ging in die Küche. Auf dem Tisch lag die Zeitung vom Wochenende. Sie blätterte die Seiten, bis sie zum Teil mit den Anzeigen kam. Sie überflog die Inserate. Suche … Biete … Sie goss sich wie gewohnt einen Kaffee auf und las genauer. Suche Mitbewohnerin in großer Wohnung … wie in Trance wählte sie die Nummer.

Die Stimme am anderen Ende klang sympathisch. Sie hörte sich geduldig alle Lobpreisungen für die Ausstattung der Wohnung an und fragte: Was ist der Nachteil dieser Wohnung? Am anderen Ende der Leitung wurde es leise: na ja, es ist so, die Wohnung liegt im Erdgeschoss an einer großen Kreuzung. In Liesel begann es zu kribbeln, ihr Augen leuchteten. Sie sagte nur noch: wann kann ich vorbeikommen, um sie kennenzulernen und mir die Wohnung anzugucken?


Ein herzliches Danke an Renate Fiebiger für die Zusendung ihrer 4 Wörter für diese Kurzgeschichte.


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