Blatsch! Die rote Flüssigkeit rinnt in zarten Linien über die Wand. Gleich hat die erste Ader den Rahmen des Bildes erreicht. Sie schaut von weitem zu. Unwillig einen Schritt zu tun. Dann ist es eben versaut das Bild. Sie konnte es sowieso schon lange nicht mehr leiden. Und vielleicht gefällt es mir danach ja wieder.

Sie nimmt den nächsten Farbbeutel und zielt auf die gleiche Wand nur etwas seitlicher. Umso mehr Chaos dort entsteht, umso mehr zündelt eine kleine Welle von Kribbeln in ihrem Bauch. Das fühlt sich gut an. Sie wird immer mutiger. Den nächsten Beutel zielt sie direkt auf das Bild. Ein Original von Ledani. Den hatte er ihr zu ihrem Einzug in das Haus geschenkt. Der muss teuer gewesen sein. Das ist lange her. Heute ist es ihr egal. In der Nacht hatte sie ihre Sachen, nur die, die ihr wirklich wichtig waren, in zwei Koffer gepackt.

Seit sie innerlich beschlossen hatte, ihn zu verlassen, hatte sie auf den richtigen Moment gewartet. Jetzt war er da. Fredo war auf Dienstreise und ahnte wahrscheinlich gar nicht, was hier gerade vor sich ging. Er war immer so fürsorglich ihr gegenüber. Es wird ein Schock für ihn sein, da ist sie sich sicher. Doch sie kann nicht mehr. Sie fühlt sich wie in einem goldenen Käfig. Dieser Neuanfang würde für sie zwar nicht einfach sein, doch jetzt oder nie. Sie wusste, dass wenn sie den Absprung nicht schaffte, wäre sie verloren. Dann versiegt auch noch das letzte bisschen Leben in ihr. Dann hat sie ihre Seele an den Teufel verkauft.

Als sie sich kennengelernt hatten, war sie so fasziniert gewesen von seiner Ordnung, seiner Struktur, seinem in sich ruhen. Er wusste immer eine Lösung, auf alles. Sie lebte bis dahin immer am Rande des Abgrundes. Nie sicher. Nie wissend, in welcher Stadt, in welchem Bett, in welchem Arm sie abends sich schlafen legen würde. Nie wissend, ob sie am Morgen noch Geld für einen Kaffee hätte. Jahrelang tingelte sie mit einem kleinen Zirkus durch die Gegenden, schon als Kind war sie in der Revue ihrer Eltern als kleine verzaubernde Seiltänzerin aufgetreten.

Doch so schön dieses Leben auch war, hatte es auch eine andere Seite. Nie hatte sie genügend Zeit Freunde zu finden. In der Schule war sie immer die Außenseiterin, die nur für ein paar Tage oder wenn es gut lief für einige Wochen in derselben Klasse war. Fahrendes Volk ohne Wurzeln. Sie war es gewohnt, immer nur auf sich selbst gestellt zu sein. Fredo war der erste, der sie heilen konnte von ihrer Gier, sich nicht anpassen zu müssen, ihrer unbändigen Sehnsucht, immer den Himmel über sich spüren zu wollen.

Er hatte das Schlafzimmer extra für sie in das Zimmer des Hauses verlegen lassen, in dem sie über ihrem Bett durch ein Dachfenster in den Himmel schauen konnte. Und er hatte ihr den Job als Kartenverkäuferin im Freiluftkino besorgt, damit sie an der frischen Luft sein konnte, immer abends, so wie sie es liebte.

Doch so sehr sie sich bemühte, sie schaffte es nicht, sich für seine Freunde zu öffnen. Und Freunde hatte Fredo viele. Sie freuten sich alle so sehr für ihn, für seine neue schillernde Freundin, die so anders war, als all die vorherigen. Früher gab er öfter Feste, seine Tür stand für seine Freunde immer offen. Doch in letzter Zeit kamen sie oft einfach abends nur kurz auf einen Cocktail vorbei und gingen, wenn sie aus dem Kino kam.

So hatten sie sich in der letzten Zeit gemeinsam immer mehr einsam und langsam auseinanderdriftend ihre Beziehung arrangiert. Der Zauber des Anfangs war vorbei. Er suchte ein glamouröses Aushängeschild und sie schien perfekt für ihn, doch sie wollte nicht sein Schmuckstück sein. Sie wollte Leben, Lachen, Lieben, trunken vor Freude, die Menschen mit ihren Kunststücken beglücken. Im Kino verkümmerte sie nur immer mehr, genauso wie zu Hause. Sie genoss es zwar, immer die neusten Filme gesehen zu haben, doch das war kein Ausgleich zu den gedankenlos fordernden Besuchern.

Sie muss gehen. Jetzt sofort. Sie holt die beiden Koffer, legt den Schlüssel auf den Tisch und sieht sich noch ein letztes Mal um. Sie hat es probiert. Darauf ist sie stolz. Doch sie will nicht länger wider ihre Natur leben. Sie zieht die Tür hinter sich leise ins Schloss. In den Straßen hatte sie in den letzten Tagen überall die Ankündigung des Roncalli gelesen.

 


 

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