4-Wort-Story: Falte, Blutdruck, Ziegel, Krone

4-Wort-Story: Falte, Blutdruck, Ziegel, Krone

Da saß sie wieder. Ihre Finger flogen über die Tastatur, nicht wissend, welche Buchstaben als Nächstes folgen würde. Ihr Kopf war leer. Sie hatte keine gedanklichen Vorstellungen, was als Nächstes kommen würde. Es war jedes Mal ein bisschen wie Hexerei. Vertrauend, sich dem Nichts hingebend, staunend darüber, was käme und auch meist, dass überhaupt etwas kommt. Der magische Moment der Schöpfung.

»Alles wird aus dem Nichts geboren, aus diesem unglaublichen Potenzial, dieser unüberschaubaren Fülle von Möglichkeiten« hört sie ihre Lehrerin sagen.

»Und dieses steht jedem zur Verfügung? Wow! Wenn das so ist, könnte ich mir ja alles kreieren.«

Wäre da nicht diese Stimme, die laut krakeelend einem weismachen will, dass dieses oder jenes nicht ginge, es doch viel zu groß für einen sei, oder vielleicht auch nur mal ein bisschen zu hell für den Moment. Sie ruft ihm laut »Halts Maul!« zu. »Dir kleinem Dämon gehe ich heute nicht auf den Leim.«

Die Bürotür öffnet sich und Paul steht neben ihr.

»Was ist denn mit dir los?«, fragt er überrascht. Sie schaut ihn an und spürt, wie ihr Blutdruck sofort auf 180 steigt. Hat er sie erwischt? Hat er ihren Entwurf auf dem Desktop entdeckt? Wenn es nach ihm ginge, dürfte ich keine eigenen Gedanken haben. Er wünscht sich, dass sie rund um die Uhr nur für ihn da ist. Immer parat, immer akkurat: »Seid bereit, immer bereit«.

Schnell steht sie auf, zieht ihren Rock nach unten und streicht die Falte in der Mitte glatt. Wenn er doch bloß nicht so launisch wäre, denkt sie. Nie weiß sie, wo er gerade ist und was er von ihr will. Seine Kommunikation ist aufs Engste begrenzt, er wirft ihr einen Halbsatz an den Kopf und sie soll sofort wissen, was er von ihr will. In Gedankenlesen übt sie sich zwar schon eine ganze Weile, doch bei ihm versagt sie oft kläglich.

Sie ist gespannt, wie lange das hier noch gut gehen wird zwischen ihnen beiden. Am liebsten würde sie ihm mal ganz offen und ehrlich ihre Meinung sagen. Doch solange sie von seinem Geld abhängig ist, muss sie sich zusammenreißen. Zu groß ist ihre Angst vor dem, was danach kommen würde. Also hält sie weiterhin die Beine still, setzt ihre Maske auf und versucht ihre Zeit dort im Büro so effektiv wie möglich zu verbringen.

In der Mittagspause will sie sich heute mit der Neuen aus der Personalabteilung treffen. Die macht einen ganz netten Eindruck und schon bei den ersten Gesprächen mit ihr hatte sie das Gefühl, dass sie auch neue Wege riskieren würde, vielleicht auch inhaltlich über den Tellerrand hinausdenkt. Vielleicht ergäbe sich ja durch diesen Kontakt eine neue Perspektive für sie.

Gedankenversunken schaut sie aus dem Fenster, die Ziegel des Daches von gegenüber leuchten dunkelrotglühend vor dem hellblauen Sommerhimmel. Sie denkt nochmals an die Macht der Schöpfung. In ihren Träumen sieht sie sich immer wieder in einem Atelier stehen.

Die Farben suchen sich ihren Weg auf der Leinwand und wenn alles trocken ist, beginnt sie mit ihrer Feinarbeit. Unzählige Punkte finden in Formen und Figuren ihren Platz und tanzen auf dem Untergrund. Es ist ihre Lieblingsmeditation. Dieses tiefe Versinken in ein Bild, sich dem voll hingeben, wo der Stift Punkt an Punkt platzieren will, sich leiten lassen von den Formen – das bringt sie in ihre Mitte. Dann sind Zeit und Raum vergessen. Das Bild spricht mit ihr und sie folgt ihm. Dann ist sie mit der Schöpfung verbunden. Dann ist Frieden in ihr. Dann sprudelt es in ihrem Inneren und sie spürt ihre Begeisterung. Dann sind all die vielen kleinen Dämonen still. Endlich.

Die Tür schlägt krachend ins Schloss. Sie hört Paul fluchend auf dem Flur. Was ist denn nun schon wieder. Ist dem Prinzen mal wieder ein Zacken aus der Krone gefallen? Dieses ganze Theaterspielen nervt. Sie muss dringend etwas verändern. Es muss doch für sie eine Möglichkeit geben, das zu tun, was sie gerne tut, um damit Geld zu verdienen.

Es klopft an die Tür. Maggi aus der Personalabteilung holt sie zum Essen ab. Zuversichtlich lacht sie sie an und sagt »Schön, dass du da bist, sie müsse dringend mit ihr reden.«

 


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4-Wort-Story: Habseligkeiten, vertrauensselig, Schlüpfer, hoffnungsstur

4-Wort-Story: Habseligkeiten, vertrauensselig, Schlüpfer, hoffnungsstur

Es war morgens um 9. Die Sonne war über den Rand des Fichtenwaldes geklettert, die ersten Strahlen warfen schon ihr Licht auf die Häuser der gegenüberliegenden Straßenseite.

Auf der Dorfstraße war es still. Seit die neue Umgehungsstraße für den Autoverkehr freigegeben wurde, saß Liesel zwar wie eh und je jeden Tag ab 8 am Fenster ihrer Wohnung im Erdgeschoss und schaute auf die Straße, doch es war nichts mehr los. Es war stiller als still.

Als ihr Erwin noch lebte, hatte sie noch viel zu tun. Er hielt sie gerne auf Trab, saß in seinem Sessel und liebte es, wenn Liesel ihn von vorne bis hinten bediente. Und Liesel liebte es, ihn zu betüdeln und zu verwöhnen. Die beiden hatten sich nach Schule kennengelernt. Es war keine Frage, da hatten sich die zwei richtigen gesucht und gefunden. Liesel war sofort klar: Das ist der, dem sie sich ganz vertrauensselig hingeben wollte. Er wusste, was ihr gefiel und las ihr die Wünsche von den Augen ab.

Ihretwegen waren sie in diese Wohnung gezogen, denn er wusste, wie gerne sie aus dem Fenster schaute und aus dem Buchstaben der Autokennzeichnen lustige kleine Sätze bildete. Doch jetzt war es hier im Haus nur noch still. Totenstill. Ihr Erwin war eines Nachmittags einfach nicht mehr von seinem Nickerchen aufgewacht.

Es war ein heißer Sommertag. Er hatte es sich bequem gemacht und saß nur in Schlüpfer und T-Shirt im Sessel. Liesel hatte zwar immer wieder zu ihm gesagt: Was sollen denn die Leute sagen, wenn du so dasitzt, wenn sie uns besuchen kommen, doch Erwin brummte nur: ist mir doch egal. Wer mich besuchen kommt, muss mich so nehmen, wie ich bin. Außerdem würde er sich ja noch eine Hose überziehen, wenn wirklich mal jemand überraschend käme. Doch das kam schon lange nicht mehr vor.

Als er dann so dalag, war es Liesel überaus peinlich, als sie den Arzt anrief und die Fahrer vom Bestattungswagen ihren Erwin nur so in Schlüpfer auf die Trage legen mussten. Doch ihr Erwin bekam von alledem nichts mehr mit. Er war sowieso einer, der immer hoffnungsstur ins Leben schaute, der mit einem unversiegbaren Optimismus gesegnet war, der auch dem schlimmsten Umstand noch einen Funken Licht abringen konnte.

Dafür hatte sie ihn einerseits geliebt. Doch manchmal trieb seine positive Haltung auch ungeheuerlich Blüten. Zum Beispiel nach der Wende, als er dachte, jetzt wird alles gut, er wird allen die besten Versicherungen verkaufen und jeder wird bei ihm eine Police unterschreiben, es sind doch alles seine Freunde. Nichts war es, seine Freunde haben ihn nur ausgelacht.

Doch er ließ sich nicht beirren und sagte zu seiner Liesel: Wir brauchen nichts Neues. Das, was wir brauchen, haben wir, das reicht uns, denn wenn unsere Zeit hier vorbei ist, können wir sowieso nix mitnehmen. Da war ihr Erwin ein ganz pragmatischer.

Der ihr so peinliche Schlüpfertag ist nun schon fast ein Jahr her. Seitdem saß sie in ihrer stillen Wohnung am Fenster. Und inzwischen fuhren auch die Autos nicht mehr an ihrem Haus vorbei. Ab und zu brummte der alte Lada von Gärtner Krause noch vorbei oder die verrückte Familie mit den vielen Kindern hupte, wenn sie mit ihrem Wohnmobil an ihrem Fenster vorbeifuhren, die Kinder winkten ihr dann meist wild zu. Doch ansonsten kam hier kein fremdes Auto mehr die Straße entlang.

Liesel langweilte sich bei so viel Stille um sie herum. Bei all dem vor sich hin dösen, kamen ihr die verrücktesten Träume in den Sinn. Was wäre, wenn sie ihre paar Habseligkeiten einpacken würde und noch einmal ganz neu anfangen würde? Doch wie sollte das gehen? Sie war noch nie allein ohne ihren Erwin unterwegs gewesen. Doch hier versauern wollte sie auch nicht. Sie fühlte sich noch zu jung zum Sterben. Doch war sie schon zu alt für einen Neubeginn?

Sie schloss das Fenster und ging in die Küche. Auf dem Tisch lag die Zeitung vom Wochenende. Sie blätterte die Seiten, bis sie zum Teil mit den Anzeigen kam. Sie überflog die Inserate. Suche … Biete … Sie goss sich wie gewohnt einen Kaffee auf und las genauer. Suche Mitbewohnerin in großer Wohnung … wie in Trance wählte sie die Nummer.

Die Stimme am anderen Ende klang sympathisch. Sie hörte sich geduldig alle Lobpreisungen für die Ausstattung der Wohnung an und fragte: Was ist der Nachteil dieser Wohnung? Am anderen Ende der Leitung wurde es leise: na ja, es ist so, die Wohnung liegt im Erdgeschoss an einer großen Kreuzung. In Liesel begann es zu kribbeln, ihr Augen leuchteten. Sie sagte nur noch: wann kann ich vorbeikommen, um sie kennenzulernen und mir die Wohnung anzugucken?


Ein herzliches Danke an Renate Fiebiger für die Zusendung ihrer 4 Wörter für diese Kurzgeschichte.


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4-Wort-Story: Wattenmeer, Koala, Eisberg, Kokosnuss

4-Wort-Story: Wattenmeer, Koala, Eisberg, Kokosnuss

Der Applaus lässt langsam nach, die ersten in den Reihen stehen auf und verlassen über die Treppe bereits das Auditorium. Lilli klappt sanft ihren Laptop zu, die Leinwand hinter ihr wird schwarz, der Beamer rauscht noch an der Decke, doch auch er wird immer leiser. Als alle Teilnehmer den Raum verlassen haben, setzt sich Lilli in die erste Reihe.

Bert kommt in den Saal. Er hatte ihr vor dem Termin geholfen, die Technik einzustellen, denn ihre größte Angst war gewesen, dass der Pointer oder die Präsentation nicht reibungsfrei liefen. Sie kannten sich von der Uni. Es war einer dieser typischen Zufälle gewesen, die keine Zufälle sind, als sie ihn vor 3 Tagen bei der Vorbesichtigung des Raumes hier im Institut für Meereskunde wiedertraf. Sie wusste, er mochte sie schon damals. Auch jetzt blitzten wieder seine Augen, wenn er sie ansah. Machte er sich denn immer noch Hoffnungen? Damals hatten sie bei einer langen Rotweinnacht beschlossen, dass sie es bei einer Freundschaft belassen würden.

Bert war einfach nicht Lillis Typ. Netter Kerl, hilfsbereit ohne Frage, doch sein Gesicht erinnerte sie immer wieder an einen Koala, kleine Knopfaugen, große Nase, wallende braungraue Haarlocken, in denen sich seine großen Ohren versteckten. Bei ihr regte sich so gar nichts bei der Vorstellung ihn küssen zu wollen.

„Wie ist es gelaufen? Bist du mit dir und dem Ablauf zufrieden? Hat mit der Technik alles funktioniert?“

Lilli schaute zu ihm hoch und nickt. „Ja, alles super. Erst war ich noch aufgeregt, doch dann lief alles wie am Schnürchen. Ich glaube, den Leuten hat es gefallen.“

„Soll ich gleich mit dem Abbau beginnen? Wollen wir danach noch etwas zusammen essen gehen?“

„Am liebsten wäre ich jetzt zu Hause am Wattenmeer. Da könnte ich jetzt kilometerlang laufen und wieder meinen Kopf freikriegen.“

„Mensch Lilli, träumst du immer noch von deinem Wattenmeer? Hier haben wir nur die Donau. Wollen wir dort später eine Runde drehen? Wie lange wohnst du jetzt schon hier? Deine Sehnsucht nach deiner Heimat hat sich wohl immer noch nicht gelegt.

Bert läuft zum Stehpult und löst die Kabel an der Anlage. Lilli bleibt sitzen. Sie fühlt sich erschöpft. Der sie durchflutende Adrenalinschub am Morgen hatte jetzt Ebbe. Sie hatte Wochen auf diesen Termin hingearbeitet. Viel Material und tausende von Bildern gesichtet, ihren Text x-mal umgeschrieben. Sie war die Expertin für die Tafel-Eisberge im Polarmeer. Die Einladung für diesen Vortrag vom Institut war für sie eine Ehre gewesen. Sie wollte es perfekt. Das waren die anderen von ihren Auftritten gewohnt. Sie wollte niemanden enttäuschen. Vor allem nicht sich selbst.

Mit einem energischen So-jetzt-aber! klatscht sie in die Hände und steht auf. Bert schaut zu ihr und denkt: so ist sie, nur kurz Schwäche zeigen und dann gleich wieder voll Power weiter.

Lilli packt ihre Sachen zusammen und legt alles neben die Technik auf den Rollwagen. „Können wir den hier stehen lassen, bis wir von unserer Runde an der Donau zurück sind?“ Ich glaub schon. Die Putzkräfte kommen erst heute Abend und ich habe einen Schlüssel.“

„Hast du Lust auf ein Eis? Bei Birner’s gibt es dein Lieblingseis.“ Bert macht einen Schritt auf sie zu.

„Wirklich? Die haben Kokosnuss?

„Ja, jedenfalls hatten sie es, als ich das letzte Mal dort war.“

„Du erstaunst mich wirklich immer wieder aufs Neue. Das du dich daran noch erinnern kannst.“ Das Blitzen in seinen Augen wird in diesem Moment noch heller. Lilli tritt einen Schritt zur Seite, sucht nach Abstand: Oh Mann, ich hoffe, ich wecke hier gerade keine unerfüllbaren Wünsche.

 


 

Ein herzliches Danke an Lorena Hoormann für die Zusendung ihre 4 Wörter für diese Kurzgeschichte.

 


 

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4-Wort-Story: Marmelade, Ernährungsdocs, Rausch, Müllabfuhr

4-Wort-Story: Marmelade, Ernährungsdocs, Rausch, Müllabfuhr

»76«, antwortete sie.
»Was? … Jahre? Kilo? Euro? Deine Zimmernummer?«. Die Stimme der Frau auf der anderen Seite des Tisches kreischte in ihrem Ohr. Gundula dreht sich um, schaut zu den anderen im Raum. Warum war sie heute nur hier an diesem Tisch gelandet? Was wollte diese Frau von ihr? Sie wollte einfach nur ihre Ruhe. Ihr Trainingsplan war voll: Vorträge, Gespräche, Laufen zum Konditionsaufbau und leichtes Krafttraining. Sie stellte schnell fest: Die Bandbreite der Patienten war hier riesig. Doch sie war einiges aus ihrem Leben gewohnt. So schnell schockte sie nichts. Sie wusste, dass sie in den nächsten Wochen hierbleiben musste, um wieder auf die Beine zu kommen.

»Pulsschläge«, murmelte sie über den Tisch, doch die Frau ihr gegenüber hatte ihr wildes Fragespiel schon an den nächsten Tisch verlagert. Sollte sie aufstehen und sich umsetzen? Doch wohin? Seit ihrer OP ging nichts mehr mal-so-schnell-eben. Sie kam sich wie ein Walross vor, obwohl sie mittlerweile so wenig wog, wie noch nie in ihrem Leben. Die Ernährungsdocs würden ihr für diesen BMI applaudieren. Als sie deren App vor Jahren noch abonniert hatte und fleißig nach Rezepten kochte, stand die BMI-Anzeige meist knapp bei Rot. Sie liebte einfach leckeres Essen. Das war nun nicht mehr ihr Problem. Heute hatte sie andere Baustellen.

Sie wusste, dass sie oft über die Grenzen ihrer Belastbarkeit ging. Vor allem im Job. Sie war gut. Sie war gefragt. Sie hatte es jetzt sogar bis zu einer Professur gebracht. Das war nie ihr Ziel gewesen, dafür hatte sie eigentlich auch gar nicht die Voraussetzungen – doch sie hatten es ihr ermöglicht. Aus Mangel an Alternativen? Oder einfach, weil sie die beste Bewerberin war?

Doch seit sie in der Uni die Stelle angetreten hatte, lief es bei ihr im Herzen nicht mehr rund. Anfangs überging sie die Zeichen. Sie wollte es sich beweisen. Sie kann das. Doch wirklich nur sich? Oder auch all den anderen, die ihr diesen Job nicht zugetraut hätten? Ihr Zweifelkobold saß ihr immer wieder auf der Schulter, flüsterte ihr Sätze ins Ohr, die ihr Angst machen sollten. Doch sie ließ sich nicht mehr von ihm beeindrucken. Wie im Rausch eignete sie sich von 0 auf 100 die neue digitale Welt der online-Wissensvermittlung für ihre Studenten an. Sie hatte Ideen, Visionen, wie sie ihr Wissen weiterreichen wollte. Sie war eine Kämpfernatur: Immer der Lösung oder dem Erreichen von Wundern zugewandt.

Doch dann schmiss es sie aus der Bahn. Die Diagnose war eindeutig. Sie kam um eine OP nicht mehr herum. Nun saß sie hier im Rehazentrum und sollte wieder zu Kräften kommen. Es waren ihre ersten Tage hier vor Ort. Am Morgen hatte sie die Müllabfuhr geweckt. Ihr Zimmer lag direkt im ersten Stock, mit Blick in den Wirtschaftshof der Klinik. Sie war aufgestanden und zum Fenster gegangen, um es zu schließen. Die Männer in ihrer orangen Aufmachung erinnerte sie an das kreative Kunstprojekt einer Studentin: Bring Farbe ins Grau. Unter dem #farbkreisreise konnte jeder der wollte, ihr im Laufe der vier Wochen Bilder zur Farbe des Monats schicken. In diesem Monat war Orange dran. Sie nahm ihr Handy vom Tisch und drückte ab. Sie hatte ihr erstes Bild: Müllmänner in Orange.

Sie ging ins Bad und schaute in den Spiegel. Die lange Linie zwischen ihrer Brust war noch eindeutig rot. Kein Bildmotiv für diesen Monat. Sie schloss den Bademantel wieder und ging zurück zu ihrem Bett. Die Schwester hatte ihr in der Zwischenzeit das Tablett mit dem Frühstück hingestellt. Sie hob die Haube und fing an zu grinsen. Dort lagen zwei Scheiben Weißbrot mit Marmelade. Sie zückt ihr Handy. Bild 2 war im Kasten. Bei der Farbe tippte sie auf Aprikose. Vielleicht ist das eine gute Idee, mit ihren Studenten Kontakt zu halten, denn irgendwann wollte sie ja hier wieder draußen sein und endlich wieder vor ihnen stehen. Die digitale Technik machts möglich. Sie schickt die Bilder per E-Mail in die Uni. Mit lieben Grüßen an alle.

 


 

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4-Wort-Story: Konfetti, Netzwerk, Regenbogen, Overall

4-Wort-Story: Konfetti, Netzwerk, Regenbogen, Overall

»Wenn du ein Problem hast, dann versuche, es zu lösen. Kannst du es nicht lösen, dann mache kein Problem daraus.«

Der Satz aus einer der Morgenmeditationen der letzten Woche ließ Sibel nicht mehr los. Er floppte immer wieder auf. Buddha hat gut reden, denkt sie. Damals als er lebte, war das Leben ein ganz anderes. Damals gab es noch keine Informationsfluten, durch die man täglich erst einmal schwimmen musste, um up to date zu sein. Damals gab es noch kein Überangebot von allem, wo man sich ständig entscheiden musste. Willst du das? Oder lieber das? Bringt dir der Post mit dem Regenbogen darauf mehr Kunden? Oder der ohne? Sibel packte ihr Handy zur Seite. Virale Medien-Detox-Diät – die hätte sie gerne, jetzt und sofort. Davon hatte Buddha bestimmt noch nie etwas gehört. Oder von der Like-Sucht, oder dem Imposter-Syndrom – wie sie alle heißen, diese neuzeitlichen Herausforderungen. Seit sie in der Agentur arbeitete, nahm auch bei ihr der Druck zu. Dauernd im Wettlauf mit der Zeit. Sie lief wie gewohnt auf Hochtouren im Hamsterrad, versuchte mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigten, doch manchmal klatschte ihr die Schnelllebigkeit wie ein nasser Lappen direkt ins Gesicht, ihr Nervenkostüm legte sie abends zerknittert und ungebügelt auf die Reservebank, ihr bisher perfektes Schutz-Mantra: „Ommmmhhh, ich schaff das“ klang oft nur noch von weitem bis zu ihr vor.

»Ist der Post schon raus?« Jedes Mal, wenn ihr Chef an ihrem Schreibtisch vorbeikommt, dieselbe Frage. Sie hat es in der Hitliste der Killer-Fragen schon fast bis nach ganz oben geschafft. Vor ihr thront nur noch die Wie geht’s-Frage. Zu Beginn fand sie Frank richtig cool. Er hatte ein klares Ziel: ein Netzwerk von Experten-Bloggern zu schaffen, die etwas in der Welt bewegen wollen. Doch mittlerweile fühlt sie sich nicht mehr so wohl.  Frank pusht seit einigen Wochen ohne Ende, sieht nur seine Vision, tanzt mit seinem Dauer-YEAH!-Grinsen durchs Büro. Sein Weg ist einzig richtige. Wer in sein Konzept passt und top Leistung abliefert, darf in sein »Winner-Team«, doch wer nicht dauerhaft liefert und spurt, ist auch schnell wieder raus. Master-Mindclass, Affilate, Business, Kundenumfrage … immer nur mehr mehr mehr auf der ganzen Linie.

Sibel ist von all dem übersättigt. Am liebsten würde sie jeden Morgen vor dem Eintritt ins Büro in einen Overall kriechen, der sie vor all dem schützt. Sie liebte ihre Arbeit. Sie hat schon viele Kampagnen für andere Firmen erfolgreich umgesetzt, jedoch immer im Angestelltenmodus. Sie weiß, was sie kann und dass sie in dem, was sie tut, gut ist. Frank war damals in ihrem Erstinterview auch sofort von ihrem Portfolio begeistert, wollte sie später unbedingt in seinem Team haben. Wie jeder andere hatte auch sie zu Beginn ihren Eintrittsbonus ins Netzwerk eingezahlt. Das war keine kleine Summe, doch sie hatte die große Hoffnung, sich mit Unterstützung dieses Netzwerkes ein eigenständiges Businessmodell zu erschaffen. Die Verkaufsstrategie von Frank hörte sich so cool an: »Gemeinsam knacken wir das Limit und bringen Licht in die Welt«. Als Frank sie dann fragte, ob sie in sein Team einsteigen wolle, fühlte sie sich natürlich geschmeichelt und sagte schnell zu. Mittlerweile war sich Sibel nicht mehr sicher, ob das eine gute Entscheidung war. Ihre eigene Kundenakquise lief nur sehr schleppend an – von wegen irgendwann regnet es Kunden wie Konfetti. Im Gegenteil. Sie sah jeden Morgen im »YEAH!«-Meeting, wie sich Franks Accounts und Konten füllten, doch sie selbst blieb immer mehr auf der Strecke.

Der Satz von Buddha kam ihr wieder in den Sinn. Wie sollte sie ihr Problem lösen? Gab es eine Lösung? Oder gab es überhaupt ein Problem? Oder war das alles mal wieder nur hausgemachter Mindfuck, der aus ihrem Unterbewusstsein heraus versuchte, ihr das Wasser abzugraben?

Sie stand auf und ging ins Franks Büro: »Frank, ich danke dir für die gemeinsame Zeit hier. Doch ich glaub, es ist Zeit für mich zu gehen. Ich mach jetzt mein Ding. Viel Erfolg. Ich habe viel von dir gelernt. Ich wünsche dir alles Gute.« Die Worte gingen ihr so leicht über die Lippen, dass sie sich fragte, warum sie sie nicht schon viel früher gesagt hatte. Doch alles zu seiner Zeit. Sie ging zurück an ihren Platz und packte ihre Sachen zusammen. Sie verneigt sich mit einem Namasté und sagte leise »Danke Buddha«.

 


 

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4-Wort-Story: Einheit, Mole, Frisierkommode, Textkritik

4-Wort-Story: Einheit, Mole, Frisierkommode, Textkritik

Die Möwen ziehen schon vor dem Sonnenaufgang ihre Kreise. Ihr leises Kreischen weckt Nelli. Sie steht kurz auf, öffnet das Fenster. Bleibt dort stehen und nimmt einen tiefen Atemzug, während ihre Hände über den seidigen Stoff ihres Nachthemds an ihren Hüften streichen. Das Rauschen des Windes an der Brandung erinnert sie an das Rotorengeräusch von Helikoptern. Sie dreht sich zum Tisch und überlegt kurz, ob sie erst Duschen gehen sollte oder schon die ersten Worte des Tages schreiben.

Sie entscheidet sich fürs Schreiben. Das Duschen kann noch warten. Doch vorher braucht sie noch einen Kaffee. Sie geht in die Küche, setzt Wasser auf und schleicht leise wieder in ihr Zimmer. Sie hat sich richtig entschieden, denn aus dem Bad neben der Küche hört sie das Wasser plätschern. Da war schon jemand früher wach gewesen als sie.

Sie schreibt wie jeden Tag das Datum des Tages in die obere Ecke des noch leeren Blattes. Heute ist der 3. Oktober. Ein Feiertag. Der Tag der Einheit. Sie hält kurz inne. Macht dieses Datum etwas mit ihr? Sie schüttelt den Kopf. Für sie ist das kein besonderer Tag. Da gibt es wichtigere in ihrem Leben. Der 18. Mai zum Beispiel, der Tag an N. das erste Mal aus ihrem Leben verschwunden war. Das ist ein so tief in ihr Leben gemeißeltes Datum, ein wunder Punkt, der mit nichts mehr aus ihrer Seele wegzuradieren ist.

Sie schaut von ihrem Schreibtisch wieder aus dem Fenster. Heute brachen sich die Wellen an den Mauersteine im Hafen. Die Gischt platscht im hohen Bogen über die Mole hinweg. Gestern war sie noch mit ihrer Freundin den langen Weg in der Sonne bis zum Leuchtturm hin- und zurückgewandert. Sie hatten geplauscht und gelacht. Der Hund lief freudig mit dem Schwanz wedelnd neben ihnen her. Heute würden sie sich einen anderen Weg zum Auslauf suchen müssen.

Sie hörte die Tür zum Nebenzimmer sich schließen. Jetzt ist das Bad wieder frei. Sie wollte wenigstens kurz auf Toilette gehen und sich die Zähne putzen. Wieder schlich sie barfuß über den Flur. Das Badezimmer ist fast genau so groß wie ihr Zimmer.  Statt einem Doppelbett steht hier eine Frisierkommode. In der Mitte könnte sie mit jemanden Walzer tanzen, so viel Platz ist dort. Noch einen kurzen Blick in den Spiegel und jetzt aber wieder zurück an den Schreibtisch, ermahnt sie sich. Sie wollte doch ihre ersten Worte des Tages schreiben.

Sie sitzt vor den leeren Blatt mit dem Datum. Wo sollte sie anfangen? Die gestrige Textkritik und das anschließende Coaching haben ihr zwar geholfen, mehr Klarheit in die Struktur ihrer Geschichte zu bringen, doch gab es auch noch so viele offene Fragen in ihr, die wie Seifenblasen aufstiegen und wieder zerplatzten. Sie steht wieder auf. Vielleicht sollte sie doch erst nach dem Morgenimpuls-Schreiben in der Gruppe mit ihrem Text anfangen.

Sie zieht sich um und läuft, treppab und wieder hinauf auf die andere Seite des Hauses. Die ersten sitzen schon im Raum. Das Zitat des Tages wird gerade an die Tafel geschrieben:

„Die Vernunft verdirbt vieles was fruchtbar, saftig und faszinierend ist.“ Anne Lamott

Sie erinnert sich sofort: Von dieser Schriftstellerin hatte sie schon mal ein Buch gelesen. Bird by Bird – Wort für Wort. Anleitung zum Schreiben.
Es war das Geschenk einer Freundin gewesen.

 


 

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