Da saß sie wieder. Ihre Finger flogen über die Tastatur, nicht wissend, welche Buchstaben als Nächstes folgen würde. Ihr Kopf war leer. Sie hatte keine gedanklichen Vorstellungen, was als Nächstes kommen würde. Es war jedes Mal ein bisschen wie Hexerei. Vertrauend, sich dem Nichts hingebend, staunend darüber, was käme und auch meist, dass überhaupt etwas kommt. Der magische Moment der Schöpfung.

»Alles wird aus dem Nichts geboren, aus diesem unglaublichen Potenzial, dieser unüberschaubaren Fülle von Möglichkeiten« hört sie ihre Lehrerin sagen.

»Und dieses steht jedem zur Verfügung? Wow! Wenn das so ist, könnte ich mir ja alles kreieren.«

Wäre da nicht diese Stimme, die laut krakeelend einem weismachen will, dass dieses oder jenes nicht ginge, es doch viel zu groß für einen sei, oder vielleicht auch nur mal ein bisschen zu hell für den Moment. Sie ruft ihm laut »Halts Maul!« zu. »Dir kleinem Dämon gehe ich heute nicht auf den Leim.«

Die Bürotür öffnet sich und Paul steht neben ihr.

»Was ist denn mit dir los?«, fragt er überrascht. Sie schaut ihn an und spürt, wie ihr Blutdruck sofort auf 180 steigt. Hat er sie erwischt? Hat er ihren Entwurf auf dem Desktop entdeckt? Wenn es nach ihm ginge, dürfte ich keine eigenen Gedanken haben. Er wünscht sich, dass sie rund um die Uhr nur für ihn da ist. Immer parat, immer akkurat: »Seid bereit, immer bereit«.

Schnell steht sie auf, zieht ihren Rock nach unten und streicht die Falte in der Mitte glatt. Wenn er doch bloß nicht so launisch wäre, denkt sie. Nie weiß sie, wo er gerade ist und was er von ihr will. Seine Kommunikation ist aufs Engste begrenzt, er wirft ihr einen Halbsatz an den Kopf und sie soll sofort wissen, was er von ihr will. In Gedankenlesen übt sie sich zwar schon eine ganze Weile, doch bei ihm versagt sie oft kläglich.

Sie ist gespannt, wie lange das hier noch gut gehen wird zwischen ihnen beiden. Am liebsten würde sie ihm mal ganz offen und ehrlich ihre Meinung sagen. Doch solange sie von seinem Geld abhängig ist, muss sie sich zusammenreißen. Zu groß ist ihre Angst vor dem, was danach kommen würde. Also hält sie weiterhin die Beine still, setzt ihre Maske auf und versucht ihre Zeit dort im Büro so effektiv wie möglich zu verbringen.

In der Mittagspause will sie sich heute mit der Neuen aus der Personalabteilung treffen. Die macht einen ganz netten Eindruck und schon bei den ersten Gesprächen mit ihr hatte sie das Gefühl, dass sie auch neue Wege riskieren würde, vielleicht auch inhaltlich über den Tellerrand hinausdenkt. Vielleicht ergäbe sich ja durch diesen Kontakt eine neue Perspektive für sie.

Gedankenversunken schaut sie aus dem Fenster, die Ziegel des Daches von gegenüber leuchten dunkelrotglühend vor dem hellblauen Sommerhimmel. Sie denkt nochmals an die Macht der Schöpfung. In ihren Träumen sieht sie sich immer wieder in einem Atelier stehen.

Die Farben suchen sich ihren Weg auf der Leinwand und wenn alles trocken ist, beginnt sie mit ihrer Feinarbeit. Unzählige Punkte finden in Formen und Figuren ihren Platz und tanzen auf dem Untergrund. Es ist ihre Lieblingsmeditation. Dieses tiefe Versinken in ein Bild, sich dem voll hingeben, wo der Stift Punkt an Punkt platzieren will, sich leiten lassen von den Formen – das bringt sie in ihre Mitte. Dann sind Zeit und Raum vergessen. Das Bild spricht mit ihr und sie folgt ihm. Dann ist sie mit der Schöpfung verbunden. Dann ist Frieden in ihr. Dann sprudelt es in ihrem Inneren und sie spürt ihre Begeisterung. Dann sind all die vielen kleinen Dämonen still. Endlich.

Die Tür schlägt krachend ins Schloss. Sie hört Paul fluchend auf dem Flur. Was ist denn nun schon wieder. Ist dem Prinzen mal wieder ein Zacken aus der Krone gefallen? Dieses ganze Theaterspielen nervt. Sie muss dringend etwas verändern. Es muss doch für sie eine Möglichkeit geben, das zu tun, was sie gerne tut, um damit Geld zu verdienen.

Es klopft an die Tür. Maggi aus der Personalabteilung holt sie zum Essen ab. Zuversichtlich lacht sie sie an und sagt »Schön, dass du da bist, sie müsse dringend mit ihr reden.«

 


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