4-Wort-Story: Marmelade, Ernährungsdocs, Rausch, Müllabfuhr

4-Wort-Story: Marmelade, Ernährungsdocs, Rausch, Müllabfuhr

»76«, antwortete sie.
»Was? … Jahre? Kilo? Euro? Deine Zimmernummer?«. Die Stimme der Frau auf der anderen Seite des Tisches kreischte in ihrem Ohr. Gundula dreht sich um, schaut zu den anderen im Raum. Warum war sie heute nur hier an diesem Tisch gelandet? Was wollte diese Frau von ihr? Sie wollte einfach nur ihre Ruhe. Ihr Trainingsplan war voll: Vorträge, Gespräche, Laufen zum Konditionsaufbau und leichtes Krafttraining. Sie stellte schnell fest: Die Bandbreite der Patienten war hier riesig. Doch sie war einiges aus ihrem Leben gewohnt. So schnell schockte sie nichts. Sie wusste, dass sie in den nächsten Wochen hierbleiben musste, um wieder auf die Beine zu kommen.

»Pulsschläge«, murmelte sie über den Tisch, doch die Frau ihr gegenüber hatte ihr wildes Fragespiel schon an den nächsten Tisch verlagert. Sollte sie aufstehen und sich umsetzen? Doch wohin? Seit ihrer OP ging nichts mehr mal-so-schnell-eben. Sie kam sich wie ein Walross vor, obwohl sie mittlerweile so wenig wog, wie noch nie in ihrem Leben. Die Ernährungsdocs würden ihr für diesen BMI applaudieren. Als sie deren App vor Jahren noch abonniert hatte und fleißig nach Rezepten kochte, stand die BMI-Anzeige meist knapp bei Rot. Sie liebte einfach leckeres Essen. Das war nun nicht mehr ihr Problem. Heute hatte sie andere Baustellen.

Sie wusste, dass sie oft über die Grenzen ihrer Belastbarkeit ging. Vor allem im Job. Sie war gut. Sie war gefragt. Sie hatte es jetzt sogar bis zu einer Professur gebracht. Das war nie ihr Ziel gewesen, dafür hatte sie eigentlich auch gar nicht die Voraussetzungen – doch sie hatten es ihr ermöglicht. Aus Mangel an Alternativen? Oder einfach, weil sie die beste Bewerberin war?

Doch seit sie in der Uni die Stelle angetreten hatte, lief es bei ihr im Herzen nicht mehr rund. Anfangs überging sie die Zeichen. Sie wollte es sich beweisen. Sie kann das. Doch wirklich nur sich? Oder auch all den anderen, die ihr diesen Job nicht zugetraut hätten? Ihr Zweifelkobold saß ihr immer wieder auf der Schulter, flüsterte ihr Sätze ins Ohr, die ihr Angst machen sollten. Doch sie ließ sich nicht mehr von ihm beeindrucken. Wie im Rausch eignete sie sich von 0 auf 100 die neue digitale Welt der online-Wissensvermittlung für ihre Studenten an. Sie hatte Ideen, Visionen, wie sie ihr Wissen weiterreichen wollte. Sie war eine Kämpfernatur: Immer der Lösung oder dem Erreichen von Wundern zugewandt.

Doch dann schmiss es sie aus der Bahn. Die Diagnose war eindeutig. Sie kam um eine OP nicht mehr herum. Nun saß sie hier im Rehazentrum und sollte wieder zu Kräften kommen. Es waren ihre ersten Tage hier vor Ort. Am Morgen hatte sie die Müllabfuhr geweckt. Ihr Zimmer lag direkt im ersten Stock, mit Blick in den Wirtschaftshof der Klinik. Sie war aufgestanden und zum Fenster gegangen, um es zu schließen. Die Männer in ihrer orangen Aufmachung erinnerte sie an das kreative Kunstprojekt einer Studentin: Bring Farbe ins Grau. Unter dem #farbkreisreise konnte jeder der wollte, ihr im Laufe der vier Wochen Bilder zur Farbe des Monats schicken. In diesem Monat war Orange dran. Sie nahm ihr Handy vom Tisch und drückte ab. Sie hatte ihr erstes Bild: Müllmänner in Orange.

Sie ging ins Bad und schaute in den Spiegel. Die lange Linie zwischen ihrer Brust war noch eindeutig rot. Kein Bildmotiv für diesen Monat. Sie schloss den Bademantel wieder und ging zurück zu ihrem Bett. Die Schwester hatte ihr in der Zwischenzeit das Tablett mit dem Frühstück hingestellt. Sie hob die Haube und fing an zu grinsen. Dort lagen zwei Scheiben Weißbrot mit Marmelade. Sie zückt ihr Handy. Bild 2 war im Kasten. Bei der Farbe tippte sie auf Aprikose. Vielleicht ist das eine gute Idee, mit ihren Studenten Kontakt zu halten, denn irgendwann wollte sie ja hier wieder draußen sein und endlich wieder vor ihnen stehen. Die digitale Technik machts möglich. Sie schickt die Bilder per E-Mail in die Uni. Mit lieben Grüßen an alle.

 


 

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