4-Wort-Story: Einheit, Mole, Frisierkommode, Textkritik
Die Möwen ziehen schon vor dem Sonnenaufgang ihre Kreise. Ihr leises Kreischen weckt Nelli. Sie steht kurz auf, öffnet das Fenster. Bleibt dort stehen und nimmt einen tiefen Atemzug, während ihre Hände über den seidigen Stoff ihres Nachthemds an ihren Hüften streichen. Das Rauschen des Windes an der Brandung erinnert sie an das Rotorengeräusch von Helikoptern. Sie dreht sich zum Tisch und überlegt kurz, ob sie erst Duschen gehen sollte oder schon die ersten Worte des Tages schreiben.
Sie entscheidet sich fürs Schreiben. Das Duschen kann noch warten. Doch vorher braucht sie noch einen Kaffee. Sie geht in die Küche, setzt Wasser auf und schleicht leise wieder in ihr Zimmer. Sie hat sich richtig entschieden, denn aus dem Bad neben der Küche hört sie das Wasser plätschern. Da war schon jemand früher wach gewesen als sie.
Sie schreibt wie jeden Tag das Datum des Tages in die obere Ecke des noch leeren Blattes. Heute ist der 3. Oktober. Ein Feiertag. Der Tag der Einheit. Sie hält kurz inne. Macht dieses Datum etwas mit ihr? Sie schüttelt den Kopf. Für sie ist das kein besonderer Tag. Da gibt es wichtigere in ihrem Leben. Der 18. Mai zum Beispiel, der Tag an N. das erste Mal aus ihrem Leben verschwunden war. Das ist ein so tief in ihr Leben gemeißeltes Datum, ein wunder Punkt, der mit nichts mehr aus ihrer Seele wegzuradieren ist.
Sie schaut von ihrem Schreibtisch wieder aus dem Fenster. Heute brachen sich die Wellen an den Mauersteine im Hafen. Die Gischt platscht im hohen Bogen über die Mole hinweg. Gestern war sie noch mit ihrer Freundin den langen Weg in der Sonne bis zum Leuchtturm hin- und zurückgewandert. Sie hatten geplauscht und gelacht. Der Hund lief freudig mit dem Schwanz wedelnd neben ihnen her. Heute würden sie sich einen anderen Weg zum Auslauf suchen müssen.
Sie hörte die Tür zum Nebenzimmer sich schließen. Jetzt ist das Bad wieder frei. Sie wollte wenigstens kurz auf Toilette gehen und sich die Zähne putzen. Wieder schlich sie barfuß über den Flur. Das Badezimmer ist fast genau so groß wie ihr Zimmer. Statt einem Doppelbett steht hier eine Frisierkommode. In der Mitte könnte sie mit jemanden Walzer tanzen, so viel Platz ist dort. Noch einen kurzen Blick in den Spiegel und jetzt aber wieder zurück an den Schreibtisch, ermahnt sie sich. Sie wollte doch ihre ersten Worte des Tages schreiben.
Sie sitzt vor den leeren Blatt mit dem Datum. Wo sollte sie anfangen? Die gestrige Textkritik und das anschließende Coaching haben ihr zwar geholfen, mehr Klarheit in die Struktur ihrer Geschichte zu bringen, doch gab es auch noch so viele offene Fragen in ihr, die wie Seifenblasen aufstiegen und wieder zerplatzten. Sie steht wieder auf. Vielleicht sollte sie doch erst nach dem Morgenimpuls-Schreiben in der Gruppe mit ihrem Text anfangen.
Sie zieht sich um und läuft, treppab und wieder hinauf auf die andere Seite des Hauses. Die ersten sitzen schon im Raum. Das Zitat des Tages wird gerade an die Tafel geschrieben:
„Die Vernunft verdirbt vieles was fruchtbar, saftig und faszinierend ist.“ Anne Lamott
Sie erinnert sich sofort: Von dieser Schriftstellerin hatte sie schon mal ein Buch gelesen. Bird by Bird – Wort für Wort. Anleitung zum Schreiben.
Es war das Geschenk einer Freundin gewesen.
Diese kleine Kurzgeschichte hat dich inspiriert oder berührt?
Manchmal klingen sie auch noch in dir nach oder regen dich selbst zum kreativen Schreiben oder Gestalten an?
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