Der Applaus lässt langsam nach, die ersten in den Reihen stehen auf und verlassen über die Treppe bereits das Auditorium. Lilli klappt sanft ihren Laptop zu, die Leinwand hinter ihr wird schwarz, der Beamer rauscht noch an der Decke, doch auch er wird immer leiser. Als alle Teilnehmer den Raum verlassen haben, setzt sich Lilli in die erste Reihe.
Bert kommt in den Saal. Er hatte ihr vor dem Termin geholfen, die Technik einzustellen, denn ihre größte Angst war gewesen, dass der Pointer oder die Präsentation nicht reibungsfrei liefen. Sie kannten sich von der Uni. Es war einer dieser typischen Zufälle gewesen, die keine Zufälle sind, als sie ihn vor 3 Tagen bei der Vorbesichtigung des Raumes hier im Institut für Meereskunde wiedertraf. Sie wusste, er mochte sie schon damals. Auch jetzt blitzten wieder seine Augen, wenn er sie ansah. Machte er sich denn immer noch Hoffnungen? Damals hatten sie bei einer langen Rotweinnacht beschlossen, dass sie es bei einer Freundschaft belassen würden.
Bert war einfach nicht Lillis Typ. Netter Kerl, hilfsbereit ohne Frage, doch sein Gesicht erinnerte sie immer wieder an einen Koala, kleine Knopfaugen, große Nase, wallende braungraue Haarlocken, in denen sich seine großen Ohren versteckten. Bei ihr regte sich so gar nichts bei der Vorstellung ihn küssen zu wollen.
„Wie ist es gelaufen? Bist du mit dir und dem Ablauf zufrieden? Hat mit der Technik alles funktioniert?“
Lilli schaute zu ihm hoch und nickt. „Ja, alles super. Erst war ich noch aufgeregt, doch dann lief alles wie am Schnürchen. Ich glaube, den Leuten hat es gefallen.“
„Soll ich gleich mit dem Abbau beginnen? Wollen wir danach noch etwas zusammen essen gehen?“
„Am liebsten wäre ich jetzt zu Hause am Wattenmeer. Da könnte ich jetzt kilometerlang laufen und wieder meinen Kopf freikriegen.“
„Mensch Lilli, träumst du immer noch von deinem Wattenmeer? Hier haben wir nur die Donau. Wollen wir dort später eine Runde drehen? Wie lange wohnst du jetzt schon hier? Deine Sehnsucht nach deiner Heimat hat sich wohl immer noch nicht gelegt.
Bert läuft zum Stehpult und löst die Kabel an der Anlage. Lilli bleibt sitzen. Sie fühlt sich erschöpft. Der sie durchflutende Adrenalinschub am Morgen hatte jetzt Ebbe. Sie hatte Wochen auf diesen Termin hingearbeitet. Viel Material und tausende von Bildern gesichtet, ihren Text x-mal umgeschrieben. Sie war die Expertin für die Tafel-Eisberge im Polarmeer. Die Einladung für diesen Vortrag vom Institut war für sie eine Ehre gewesen. Sie wollte es perfekt. Das waren die anderen von ihren Auftritten gewohnt. Sie wollte niemanden enttäuschen. Vor allem nicht sich selbst.
Mit einem energischen So-jetzt-aber! klatscht sie in die Hände und steht auf. Bert schaut zu ihr und denkt: so ist sie, nur kurz Schwäche zeigen und dann gleich wieder voll Power weiter.
Lilli packt ihre Sachen zusammen und legt alles neben die Technik auf den Rollwagen. „Können wir den hier stehen lassen, bis wir von unserer Runde an der Donau zurück sind?“ Ich glaub schon. Die Putzkräfte kommen erst heute Abend und ich habe einen Schlüssel.“
„Hast du Lust auf ein Eis? Bei Birner’s gibt es dein Lieblingseis.“ Bert macht einen Schritt auf sie zu.
„Wirklich? Die haben Kokosnuss?
„Ja, jedenfalls hatten sie es, als ich das letzte Mal dort war.“
„Du erstaunst mich wirklich immer wieder aufs Neue. Das du dich daran noch erinnern kannst.“ Das Blitzen in seinen Augen wird in diesem Moment noch heller. Lilli tritt einen Schritt zur Seite, sucht nach Abstand: Oh Mann, ich hoffe, ich wecke hier gerade keine unerfüllbaren Wünsche.
Ein herzliches Danke an Lorena Hoormann für die Zusendung ihre 4 Wörter für diese Kurzgeschichte.
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»76«, antwortete sie.
»Was? … Jahre? Kilo? Euro? Deine Zimmernummer?«. Die Stimme der Frau auf der anderen Seite des Tisches kreischte in ihrem Ohr. Gundula dreht sich um, schaut zu den anderen im Raum. Warum war sie heute nur hier an diesem Tisch gelandet? Was wollte diese Frau von ihr? Sie wollte einfach nur ihre Ruhe. Ihr Trainingsplan war voll: Vorträge, Gespräche, Laufen zum Konditionsaufbau und leichtes Krafttraining. Sie stellte schnell fest: Die Bandbreite der Patienten war hier riesig. Doch sie war einiges aus ihrem Leben gewohnt. So schnell schockte sie nichts. Sie wusste, dass sie in den nächsten Wochen hierbleiben musste, um wieder auf die Beine zu kommen.
»Pulsschläge«, murmelte sie über den Tisch, doch die Frau ihr gegenüber hatte ihr wildes Fragespiel schon an den nächsten Tisch verlagert. Sollte sie aufstehen und sich umsetzen? Doch wohin? Seit ihrer OP ging nichts mehr mal-so-schnell-eben. Sie kam sich wie ein Walross vor, obwohl sie mittlerweile so wenig wog, wie noch nie in ihrem Leben. Die Ernährungsdocs würden ihr für diesen BMI applaudieren. Als sie deren App vor Jahren noch abonniert hatte und fleißig nach Rezepten kochte, stand die BMI-Anzeige meist knapp bei Rot. Sie liebte einfach leckeres Essen. Das war nun nicht mehr ihr Problem. Heute hatte sie andere Baustellen.
Sie wusste, dass sie oft über die Grenzen ihrer Belastbarkeit ging. Vor allem im Job. Sie war gut. Sie war gefragt. Sie hatte es jetzt sogar bis zu einer Professur gebracht. Das war nie ihr Ziel gewesen, dafür hatte sie eigentlich auch gar nicht die Voraussetzungen – doch sie hatten es ihr ermöglicht. Aus Mangel an Alternativen? Oder einfach, weil sie die beste Bewerberin war?
Doch seit sie in der Uni die Stelle angetreten hatte, lief es bei ihr im Herzen nicht mehr rund. Anfangs überging sie die Zeichen. Sie wollte es sich beweisen. Sie kann das. Doch wirklich nur sich? Oder auch all den anderen, die ihr diesen Job nicht zugetraut hätten? Ihr Zweifelkobold saß ihr immer wieder auf der Schulter, flüsterte ihr Sätze ins Ohr, die ihr Angst machen sollten. Doch sie ließ sich nicht mehr von ihm beeindrucken. Wie im Rausch eignete sie sich von 0 auf 100 die neue digitale Welt der online-Wissensvermittlung für ihre Studenten an. Sie hatte Ideen, Visionen, wie sie ihr Wissen weiterreichen wollte. Sie war eine Kämpfernatur: Immer der Lösung oder dem Erreichen von Wundern zugewandt.
Doch dann schmiss es sie aus der Bahn. Die Diagnose war eindeutig. Sie kam um eine OP nicht mehr herum. Nun saß sie hier im Rehazentrum und sollte wieder zu Kräften kommen. Es waren ihre ersten Tage hier vor Ort. Am Morgen hatte sie die Müllabfuhr geweckt. Ihr Zimmer lag direkt im ersten Stock, mit Blick in den Wirtschaftshof der Klinik. Sie war aufgestanden und zum Fenster gegangen, um es zu schließen. Die Männer in ihrer orangen Aufmachung erinnerte sie an das kreative Kunstprojekt einer Studentin: Bring Farbe ins Grau. Unter dem #farbkreisreise konnte jeder der wollte, ihr im Laufe der vier Wochen Bilder zur Farbe des Monats schicken. In diesem Monat war Orange dran. Sie nahm ihr Handy vom Tisch und drückte ab. Sie hatte ihr erstes Bild: Müllmänner in Orange.
Sie ging ins Bad und schaute in den Spiegel. Die lange Linie zwischen ihrer Brust war noch eindeutig rot. Kein Bildmotiv für diesen Monat. Sie schloss den Bademantel wieder und ging zurück zu ihrem Bett. Die Schwester hatte ihr in der Zwischenzeit das Tablett mit dem Frühstück hingestellt. Sie hob die Haube und fing an zu grinsen. Dort lagen zwei Scheiben Weißbrot mit Marmelade. Sie zückt ihr Handy. Bild 2 war im Kasten. Bei der Farbe tippte sie auf Aprikose. Vielleicht ist das eine gute Idee, mit ihren Studenten Kontakt zu halten, denn irgendwann wollte sie ja hier wieder draußen sein und endlich wieder vor ihnen stehen. Die digitale Technik machts möglich. Sie schickt die Bilder per E-Mail in die Uni. Mit lieben Grüßen an alle.
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»Wenn du ein Problem hast, dann versuche, es zu lösen. Kannst du es nicht lösen, dann mache kein Problem daraus.«
Der Satz aus einer der Morgenmeditationen der letzten Woche ließ Sibel nicht mehr los. Er floppte immer wieder auf. Buddha hat gut reden, denkt sie. Damals als er lebte, war das Leben ein ganz anderes. Damals gab es noch keine Informationsfluten, durch die man täglich erst einmal schwimmen musste, um up to date zu sein. Damals gab es noch kein Überangebot von allem, wo man sich ständig entscheiden musste. Willst du das? Oder lieber das? Bringt dir der Post mit dem Regenbogen darauf mehr Kunden? Oder der ohne? Sibel packte ihr Handy zur Seite. Virale Medien-Detox-Diät – die hätte sie gerne, jetzt und sofort. Davon hatte Buddha bestimmt noch nie etwas gehört. Oder von der Like-Sucht, oder dem Imposter-Syndrom – wie sie alle heißen, diese neuzeitlichen Herausforderungen. Seit sie in der Agentur arbeitete, nahm auch bei ihr der Druck zu. Dauernd im Wettlauf mit der Zeit. Sie lief wie gewohnt auf Hochtouren im Hamsterrad, versuchte mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigten, doch manchmal klatschte ihr die Schnelllebigkeit wie ein nasser Lappen direkt ins Gesicht, ihr Nervenkostüm legte sie abends zerknittert und ungebügelt auf die Reservebank, ihr bisher perfektes Schutz-Mantra: „Ommmmhhh, ich schaff das“ klang oft nur noch von weitem bis zu ihr vor.
»Ist der Post schon raus?« Jedes Mal, wenn ihr Chef an ihrem Schreibtisch vorbeikommt, dieselbe Frage. Sie hat es in der Hitliste der Killer-Fragen schon fast bis nach ganz oben geschafft. Vor ihr thront nur noch die Wie geht’s-Frage. Zu Beginn fand sie Frank richtig cool. Er hatte ein klares Ziel: ein Netzwerk von Experten-Bloggern zu schaffen, die etwas in der Welt bewegen wollen. Doch mittlerweile fühlt sie sich nicht mehr so wohl. Frank pusht seit einigen Wochen ohne Ende, sieht nur seine Vision, tanzt mit seinem Dauer-YEAH!-Grinsen durchs Büro. Sein Weg ist einzig richtige. Wer in sein Konzept passt und top Leistung abliefert, darf in sein »Winner-Team«, doch wer nicht dauerhaft liefert und spurt, ist auch schnell wieder raus. Master-Mindclass, Affilate, Business, Kundenumfrage … immer nur mehr mehr mehr auf der ganzen Linie.
Sibel ist von all dem übersättigt. Am liebsten würde sie jeden Morgen vor dem Eintritt ins Büro in einen Overall kriechen, der sie vor all dem schützt. Sie liebte ihre Arbeit. Sie hat schon viele Kampagnen für andere Firmen erfolgreich umgesetzt, jedoch immer im Angestelltenmodus. Sie weiß, was sie kann und dass sie in dem, was sie tut, gut ist. Frank war damals in ihrem Erstinterview auch sofort von ihrem Portfolio begeistert, wollte sie später unbedingt in seinem Team haben. Wie jeder andere hatte auch sie zu Beginn ihren Eintrittsbonus ins Netzwerk eingezahlt. Das war keine kleine Summe, doch sie hatte die große Hoffnung, sich mit Unterstützung dieses Netzwerkes ein eigenständiges Businessmodell zu erschaffen. Die Verkaufsstrategie von Frank hörte sich so cool an: »Gemeinsam knacken wir das Limit und bringen Licht in die Welt«. Als Frank sie dann fragte, ob sie in sein Team einsteigen wolle, fühlte sie sich natürlich geschmeichelt und sagte schnell zu. Mittlerweile war sich Sibel nicht mehr sicher, ob das eine gute Entscheidung war. Ihre eigene Kundenakquise lief nur sehr schleppend an – von wegen irgendwann regnet es Kunden wie Konfetti. Im Gegenteil. Sie sah jeden Morgen im »YEAH!«-Meeting, wie sich Franks Accounts und Konten füllten, doch sie selbst blieb immer mehr auf der Strecke.
Der Satz von Buddha kam ihr wieder in den Sinn. Wie sollte sie ihr Problem lösen? Gab es eine Lösung? Oder gab es überhaupt ein Problem? Oder war das alles mal wieder nur hausgemachter Mindfuck, der aus ihrem Unterbewusstsein heraus versuchte, ihr das Wasser abzugraben?
Sie stand auf und ging ins Franks Büro: »Frank, ich danke dir für die gemeinsame Zeit hier. Doch ich glaub, es ist Zeit für mich zu gehen. Ich mach jetzt mein Ding. Viel Erfolg. Ich habe viel von dir gelernt. Ich wünsche dir alles Gute.« Die Worte gingen ihr so leicht über die Lippen, dass sie sich fragte, warum sie sie nicht schon viel früher gesagt hatte. Doch alles zu seiner Zeit. Sie ging zurück an ihren Platz und packte ihre Sachen zusammen. Sie verneigt sich mit einem Namasté und sagte leise »Danke Buddha«.
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